Alternativmedizin in der Schweiz – natürliches Heiles erlebt einen Boom

Zugang für alle trotz hoher Nachfrage nicht gesichert

Noch gut tausend Ärzte haben einen Fachausweis in Komplementärmedizin. Ihnen stehen 20’000 registrierte nichtärztliche Therapeuten gegenüber.

Erleichterten Zugang zur Alternativmedizin für alle: Das war das Ziel des Verfassungsartikels zur Komplementärmedizin, für den sich die Schweizer Stimmberechtigten 2009 ausgesprochen haben. Seither sind ärztliche Leistungen aus den Bereichen Traditionelle Chinesische Medizin, Pflanzenheilkunde, Homöopathie und Anthroposophische Medizin wieder von der gesetzlichen Grundversicherung gedeckt.

Nun zeigt sich, dass der Zugang zur Alternativmedizin in den letzten Jahren nicht erleichtert, sondern eher noch erschwert wurde; denn die Gruppe der zur Auswahl stehenden Ärzte, deren Behandlungen von der Krankenkasse vergütet werden, ist geschrumpft: Fünfunddreissig Fähigkeitsausweise in der Traditionellen Chinesischen Medizin hat die Ärzteorganisation FMH im Jahr vor der Abstimmung ausgestellt. Letztes Jahr waren es noch neun. Gleich verhält es sich bei den Homöopathen – 2014 haben lediglich drei Ärzte den Fachausweis erlangt. Ähnlich lau ist das Interesse der Schulmediziner an der Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) und der Anthroposophischen Medizin.

Quacksalber aussortieren

Dabei ist die Nachfrage nach alternativen Therapieformen ungebrochen, wie Silva Keberle, Leiterin des Erfahrungsmedizinischen Registers (EMR), sagt. «Es sind vor allem Chronischkranke, schulmedizinisch Austherapierte und Familien mit kleinen Kindern, die auf Komplementärmedizin setzen.» Diese Nachfrage spiegelt sich in der steigenden Zahl der nichtärztlichen Therapeuten (siehe Grafik). Diese dürfen zulasten der Zusatzversicherung der Krankenkassen abrechnen. «Wir bearbeiten jährlich 1400 Gesuche», sagt Keberle.

Manche Methoden erleben derzeit einen regelrechten Boom, wie etwa die Osteopathie, die traditionell eher in der Westschweiz verwurzelt ist und erst seit ein paar Jahren in der Deutschschweiz Fuss fasst. Insbesondere die Behandlung von allerlei frühkindlichen Beschwerden, die mit schulmedizinischen Methoden kaum behandelbar sind – allen voran das Phänomen der «Schrei-Babys» – stellen eine populäre Indikation für die Osteopathie dar.

In den nächsten Tagen anerkennt das EMR seinen 20 000. Therapeuten. «Der Markt ist noch lange nicht gesättigt», sagt Keberle, die selber Ärztin ist. Vor fünfzehn Jahren hat sie das Register gegründet. Seither hat das EMR die Dossiers von 30 000 Therapeuten geprüft und Quacksalber von seriösen Therapeuten zu trennen versucht. In der Schweiz sind jedoch weit mehr als diese 30 000 Therapeuten tätig. In einigen Kantonen braucht es keine Berufsausübungsbewilligung, um als Therapeut tätig zu werden, in anderen Kantonen dagegen schon. Doch auch wenn die Zahl der qualifizierten nichtärztlichen Therapeuten weiter zunehmen sollte: Das Ziel des Verfassungsartikels, nämlich den Zugang zur Alternativmedizin für alle zu öffnen, ist damit nicht erreicht. Denn nur ein Bruchteil der Schweizer Bevölkerung kann sich eine Zusatzversicherung leisten. Umso wichtiger wäre es, dass mehr Ärzte mit alternativmedizinischem Fähigkeitsausweis Behandlungen anbieten würden.

Junge Ärzte abgeschreckt

Dass sich immer weniger Schulmediziner für alternative Therapien interessieren, hat laut Keberle mit Fehlanreizen des Krankenkassenwesens zu tun. «Ein Arzt, der eine homöopathische Therapie über die Grundversicherung abrechnet, bekommt weniger vergütet als ein nichtärztlicher Homöopath, der zulasten der Zusatzversicherung abrechnet», erklärt sie. Ärzte mit einem Fähigkeitsausweis in den genannten Gebieten dürfen ausschliesslich zulasten der Grundversicherung abrechnen.

Der Präsident der Union Komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen, Hansueli Albonico, hat eine andere Erklärung: «Der Hauptgrund für unser Nachwuchsproblem liegt nicht im fehlenden pekuniären Anreiz, sondern in der Entmutigung der jungen Ärztinnen und Ärzte», findet er. Ausserdem seien die komplementärmedizinischen Lehrveranstaltungen während der Ausbildungszeit «äusserst dürftig» und liessen keine genügende Sensibilisierung für die Komplementärmedizin zu. «Die noch immer abschätzige bis diffamierende Haltung an den medizinischen Fakultäten und an vielen Weiterbildungsstätten schreckt den Nachwuchs ab», sagt Albonico.

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